29.04.2021

Warum die Pflege von KI, Machine Learning und Sprachassistenten ganz besonders profitieren kann

Wie das Gesundheitswesen und insbesondere die Pflegebranche von Digitalisierung und neuen Technologien profitieren kann, beleuchtet Dr. Bettina Horster, Vorstand der VIVAI Software AG und Direktorin der Kompetenzgruppe IoT im eco – Verband der Internetwirtschaft e. V. in ihrer Artikelserie.

Digitale Infrastrukturen, neue Technologien, Sicherheit & rechtliche Hürden: Voraussetzungen für die Digitalisierung der Pflege.

Ein Großteil der Deutschen sieht bei der Digitalisierung im Gesundheitswesen Nachholbedarf. Deutlich gemacht hat das die Corona-Pandemie laut einer repräsentativen Umfrage, die der eco – Verband der Internetwirtschaft e.V. im April beim Meinungsforschungsinstitut Civey in Auftrag gegeben hat. Im Zuge der digitalen Herausforderungen der Pandemiebekämpfung werden heute vor allem die elektronische Patientenakte und der digitale Impfausweis vermehrt öffentlich diskutiert.

Doch innerhalb des Gesundheitswesens gibt es einen Bereich, der sich bislang praktisch jeglicher Digitalisierung aus operativer Sicht entzogen hat: Die Pflege und konkreter, die Altenpflege. „Die Pflegenden und auch die Pflegeberater:innen haben vielfach eine angstgeprägte Haltung gegenüber der Technologisierung und es mangelt an Produkten, die die eingeschränkten Menschen und ihre Betreuer:innen tatsächlich unterstützen“, beklagt Dr. Bettina Horster, Vorstand VIVAI AG und Direktorin IoT im eco Verband. Dabei gibt es viele bisher ungenutzte Potenziale, von denen wir gesellschaftlich und mit Blick in die eigene Zukunft enorm profitieren können.

Trotz des demografischen Wandels und des Pflegenotstands gab es in den letzten 50 Jahren in der operativen Pflege so gut wie keine Weiterentwicklung. Innerhalb des Gesundheitswesens bildet die Altenpflege hinsichtlich des Einsatzes von digitalen Lösungen und Unterstützungssystemen das Schlusslicht.

Doch warum ist das so? Wo liegen die systemischen Probleme in der Altenpflege? Warum ist dieser Bereich technologisch so abgehängt? Gerade alte Menschen mit Unterstützungsbedarf können überproportional von Machine Learning, Sprachverarbeitung und kognitiven Services profitieren.

IT und IoT tragen maßgeblich zur Sicherheit und somit zu einem selbstbestimmten längeren Verbleib in der eigenen Wohnung bei. Digitale Assistenzsysteme können den Alltag enorm erleichtern. Zudem bietet die Digitalisierung von Senior:innen-Einrichtungen Möglichkeiten der Personalentlastung und einen echten Mehrwert für die Bewohner:innen in Bezug auf die Versorgung und digitale Kommunikation, das hat grade die Corona-Pandemie deutlich gezeigt.

Digitale Infrastruktur als zentrale Voraussetzung

Doch gerade in Pflegeinrichtungen sind digitale Infrastrukturen ein großes Problem. Trotz beispielsweise der gesetzlichen Grundlage für eine Internetpflicht für Pflegeheime in NRW seit 2019, hat sich hier bisher nur sehr wenig bewegt. Einem Großteil der Bewohner:innen von Pflegeheimen steht nach wie vor kein WLAN zur Verfügung. Mit dem Umzug in ein Pflege- oder Altenheim ohne entsprechenden Internetzugang wird die wachsende Gruppe der Internet-nutzenden Senior:innen digital abgehängt.

Dabei bildet eine funktionierende digitale Infrastruktur die zentrale Voraussetzung, um die Digitalisierung in der Pflegebranche voranzutreiben. Neben dem Zugang zu digitalen Kommunikationsmöglichkeiten für die Bewohner:innen, könnte auch das Pflegepersonal durch den Einsatz von neuen digitalen Technologien und der Nutzung entsprechender Software beispielsweise zum Monitoring der Bewohner:innen maßgeblich unterstützt werden.

Gerade in der aktuellen Krisensituation kann die Nutzung von digitalen Assistenzsystemen die zwischenmenschliche Interaktion fördern, trotz gebotenem Social Distancing. Denn die Vitalwerte und Zustände der Bewohner:innen können auch ohne physischen Kontakt und räumlich unabhängig eng durch das Pflegepersonal überwacht werden. Videocall-Funktionen stellen die audiovisuelle Verbindung zum Pflegepersonal oder zu Angehörigen oder anderen Bewohner:innen her. Bewohner mittels Video in Augenschein zu nehmen, ist eine zusätzliche Sicherheitsfunktion. Die Monitoring-Funktionen haben große Bedeutung auch im Falle eines erneuten Anstiegs des Infektionsgeschehens bei COVID-19 oder im Umgang mit anderen Infektionskrankheiten.

Zudem wird durch das Monitoring, ohne physisch nötigen Kontakt, die Privatsphäre der Bewohner:innen vergrößert und zeitgleich kann durch eine Videocall-Funktion der soziale Kontakt zu Angehörigen und Fachkräften weiterhin aufrechterhalten werden. Einem Gefühl der Vereinsamung kann so entgegengewirkt werden.

Solche Systeme entlasten die pflegenden Fachkräfte, gerade bei den aktuellen strengeren und zusätzlichen Hygienemaßnahmen und der dadurch bedingten geringeren Zeit für die Pflegebedürftigen. Denn leider ist aufgrund neuer zusätzlicher Auflagen und des damit verbunden Zeitdrucks nicht mehr gewährleistet, dass der Zustand der Bewohner:innen entsprechend überwacht werden kann. So können Stürze, Dehydration, Blutdruckabweichungen und Gewichtsänderungen unerkannt bleiben. Doch die Umsetzungen und somit auch ein großer Teil des Gesundheitswesens bleiben auf der Strecke. Dabei hat die Pandemie gezeigt, wie wichtig die digitale Vernetzung und der Einsatz neuer Technologien ist.

Qualitätsprobleme Sensoren – wer entscheidet, ob ein Sensor tauglich ist?

Neben den infrastrukturellen Schwierigkeiten stellt auch die Qualitätsprüfung von smarten Hilfsmitteln ein Problem dar. Vermehrt drängen IoT-Geräte mit neuen Sensoren auf den Markt, etwa um Inkontinenz oder Stürze zu erkennen oder Blutdruck zu messen. Grundsätzlich haben diese Hilfsmittel alle ihre Daseinsberechtigung. Allerdings, bei genauerer Betrachtung, ist nicht sichergestellt, dass diese Geräte auch alle wie versprochen funktionieren.

In der Regel ist es ausreichend, wenn diese Geräte ein CE-Zertifikat aufweisen. Jedoch garantiert dieses nicht, dass die Hilfsmittel auch tatsächlich eine entsprechende Qualität haben und im Ernstfall auch reagieren.

Ein Test von Sturzsensoren im Jahr 2018 von VIVAIcare und dem Fraunhofer IMS hat ernüchternd gezeigt, dass die Erwartungen an die Sturzsensoren nicht erfüllt wurden. Von sechs getesteten Sensoren konnte nur eines der Geräte zuverlässige Sicherheit bieten und auf die Stürze reagieren.

Um solche Qualitätsprobleme ausschließen zu können und den Anwendern eine entsprechende Sicherheit der Funktionalität der Geräte zu gewährleisten, braucht es die Einführung zuverlässiger Prüfungen mit zugehörigen Zertifizierungen und Siegeln.

Rechtliche Hürden der DSGVO

Wenn die Menschen mit Unterstützungsbedarf ein Monitoringsystem einsetzen, dann dürfen sie mit Recht verlangen, dass diese Daten gut geschützt sind und sie entscheiden können, wer Zugriff auf diese Daten hat.

Nun werden Daten aus einem Assistenzsystem als Gesundheitsdaten angesehen und sind so schutzwürdig, wie beispielsweise die Daten einer implantierten Diabetespumpe. Daraus folgt aber auch, dass man eine Risikofolgenabschätzung und ein umfangreiches Konvolut an Einwilligungen und Datenschutzerklärungen mit den Pflegebedürftigen abgeschlossen werden müssen.

Es ist ferner gesetzlich vorgeschrieben, dass die Nutzer über ihre Rechte aufgeklärt werden. Da die rechtlichen Voraussetzungen komplex sind, ist es ein sportliches Unterfangen, den Hochbetagten die Feinheiten der Datenschutzgrundverordnung zu erläutern. Nach eigener Erfahrung sind sogar deutlich jüngere Angehörige schnell überfordert. Zum anderen verunsichern die Diskussionen und die juristischen Konvolute die älteren Menschen, die sich daher um die Sicherheit ihrer Daten sorgen.

Neben diesen Hürden, die es zu nehmen gilt und die praxisnäher gestaltet sein sollten, sollte zudem sichergestellt werden, dass die Datenspeicherung in Europa erfolgt. Jedoch birgt auch genau das neue Herausforderungen.

Digitale Assistenten und die Politik

Der Achte Altersbericht (Ältere Menschen und Digitalisierung) von 2020 mit Stellungnahme der Bundesregierung gibt es eindeutig vor: Digitale Assistenzsysteme sind gerade in der häuslichen Pflege die Lösung, damit Menschen mit Einschränkungen länger autonom, selbstbestimmt und sicher leben können.

Bei der Ausstattung der Wohnungen mit Smart Home-Technologien und Assistenzsystemen kommt laut Bundesfamilienministerium der Wohnungswirtschaft, vor allem Unternehmen und Genossenschaften, eine zentrale Rolle zu. In den Erkenntnissen und Empfehlungen des Achten Altersberichts heißt es: „Viel besser als Einzelpersonen kann die Wohnungswirtschaft von den Technikanbietern hohe Standards bei Sicherheit, Qualität und Service einfordern und so den Verbraucherschutz im Sinne der Mieterinnen und Mieter gestalten.“

Allerdings argumentiert die Wohnungswirtschaft, dass ihnen bereits die Ausstattung mit Zapfsäulen für Elektroautos und die energetische Sanierung zu Lasten gelegt wird und zudem die Mieten für Senioren bezahlbar bleiben müssen. Da auch die Ausstattung mit smarten Systemen an den Wohnungsunternehmen hängen bleiben würde, ist man dort diesbezüglich also eher zurückhaltend.

Bei dem aktuellen durchschnittlichen Nettoeinkommen bei Rentnern können sich die meisten ein digitales Assistenzsystem für die eigene Wohnung mit Anschaffungskosten von ca. 1.800 – 3.000 € und monatlichen Kosten von bis zu 100 € nicht leisten, da es noch nicht durch die Pflegekassen übernommen wird. Die Finanzierung eines Heimplatzes hingegen mit Kosten in Höhe von mindestens 3.000 € monatlich ist gesetzlich verankert. Wobei es auch hier, wie bereits erwähnt, an entsprechenden Digitalisierungsmaßnahmen mangelt.

Angesichts des demographischen Wandels und des Pflegenotstands gibt es dringenden Handlungsbedarf. Digitale Assistenzsysteme für die häusliche Pflege sind eine gute Lösung und sorgen bei den Älteren für ein gutes Gefühl. Jedoch stehen der schnellen und effizienten Förderung und Weiterentwicklung solch smarter Lösungen und Projekte komplizierte und komplexe Antragsverfahren im Weg. Daher wünsche ich mir mehr Offenheit und Experimentierfreude von den Verantwortlichen und ein größeres gesellschaftliches Engagement für die ältere Generation.