10.01.2023

Interview mit Prof. Peter Liggesmeyer und Steffen Hess zum Forschungsprojekt „Digitale Dörfer“

Wie können innovative digitale Technologien dazu beitragen, das Leben der Menschen im ländlichen Raum zu unterstützen und zu entlasten? Mehr in unserem Gespräch mit Prof. Peter Liggesmeyer und Steffen Hess zum Forschungsprojekt „Digitale Dörfer“:

 

Was verbirgt sich hinter dem Forschungsprojekt „Digitale Dörfer“ und inwieweit können digitale Dienste und Technologie dazu beitragen, das Miteinander und das Leben auf dem Land zu verbessern?

Professor Liggesmeyer: In erster Linie ging es uns im Forschungsprojekt „Digitale Dörfer“ darum, Herausforderungen im ländlichen Bereich real zu lösen oder zumindest abzumildern, beispielsweise in Bezug auf die Nahversorgung. Der größte Teil an Lebensmitteln wird in ländlichen Regionen erzeugt, dennoch haben die dort niedergelassenen Geschäfte Schwierigkeiten wirtschaftlich zu überleben. Unsere Frage war: Wie schaffen wir ein System, das diese Vielzahl von Erzeugern und Anbietern mit ihren in der Fläche verteilten Kunden zusammenbringt?

Vor diesem Szenario waren wir überzeugt mit digitalen Mitteln für alle Beteiligten etwas Nützliches zu erzeugen, sprich den Endkunden ein lokales Angebot in einfacher Form zur Verfügung zu stellen und den Anbietern einen größeren Markt zu ermöglichen, der ihnen das Überleben leichter macht. Dafür haben wir uns ein spezielles System entwickelt, gekoppelt mit einer Mitmach-Logistik, die ganz deutlich darauf abzielte, dass Menschen bereit sind, sich einzubringen, indem sie zum Beispiel eine Sendung mitnehmen auf dem Weg vom Büro nach Hause. Unsere Hypothese lautete: Man wird ausreichend Menschen finden, die das wollen. Aber es ist eben nur eine Hypothese, solange man sie nicht bewiesen hat. Und deswegen haben wir in Modellregionen solche Lösungen aufgebaut und erfolgreich evaluiert. Das war der Startpunkt.

Steffen Hess: Wir sind 2015 mit dem Projekt „Digitale Dörfer“ gestartet mit dem Ziel, die Herausforderungen des heutigen immer stärker digitalisierten Lebens in ländlichen Regionen zu untersuchen. Bis 2017 war für das fördernde Ministerium sehr wichtig, das Thema Ehrenamt in den Fokus zu nehmen und neue, flexiblere Zugänge zu ehrenamtlichen Tätigkeiten zu liefern, was natürlich immer auch in der Stärkung des Wir-Gefühls als Ergebnis mündet.

Mit ansässigen Händlern haben wir beispielsweise einen regionalen Online-Marktplatz mit einer Anwendung zur Lieferung bestellter Waren durch Freiwillige initiiert. Die Nahversorgung erfolgte über eine Mitmach-Logistik. Den beteiligten Ehrenamtlern war es sehr wichtig, die Pakete nicht in der Packstation, sondern persönlich abzugeben. Die Menschen waren vor allem intrinsisch motiviert durch diesen Plausch, den sie bei der Übergabe an der Haustür hatten. Ein stückweit haben die Ehrenamtler das System auch selbst reguliert. Wenn sie beispielsweise gemerkt haben, eine Person, die bestellt relativ viel und ist eigentlich gar nicht bedürftig, dann haben die Ehrenamtler sozusagen diese Lieferung nicht gefahren – auch mit Absicht. Sie haben sich teilweise auch in parallelen Gruppen über WhatsApp organisiert, um sich abzusprechen. Diese Lösungen haben auch ihren Beitrag zur Stärkung des Wir-Gefühls beigetragen.

 

56 Millionen der Menschen in Deutschland wohnen in ländlichen Regionen. Daraus resultieren – im Gegensatz zu Großstädten – auch weitere spezifische Herausforderungen wie beispielsweise die mangelnde ärztliche Versorgung im ländlichen Raum oder fehlende Mobilitätsangebote. Inwiefern ist die Digitalisierung aus Ihrer Sicht Teil der Lösung, um spezifische Problemstellungen des Landlebens zu lösen?

Professor Liggesmeyer: Wir erforschen seit einiger Zeit medizinische Lösungen, die unter anderem auch auf ländliche Regionen abzielen, beispielsweise im Bereich Telemedizin. Wir denken hier nicht nur an die bekannte Online-Arzt-Sprechstunde über die üblichen Konferenzsysteme, sondern wollen leistungsfähige medizinische Dienste untersuchen.

Ein Use Case ist beispielsweise eine Person mit einer chronischen Erkrankung, die einer engmaschigen Überwachung bedarf, die aber möglicherweise am Wohnort der erkrankten Person nicht leistbar ist, weil kein niedergelassener Arzt verfügbar ist. In Kooperation mit unserem Zentrum für digitale Diagnostik und den Fraunhofer-Instituten für Zelltherapie und Immunologie (IZI) in Leipzig und Potsdam entwickeln wir medizinische Diagnoseverfahren, die so beschaffen sind, dass sie von medizinischen Laien angewendet werden können.

Die Grund-Idee ist, die Verfahren so zu vereinfachen, dass ältere Menschen in ländlichen Regionen, die vielleicht nicht mehr sonderlich mobil sind und wo der öffentliche Nahverkehr nicht wirklich gut ausgebaut ist, in der Lage sind, regelmäßig derartige Gesundheits-Parameter bei sich selbst zu erfassen. Diese Daten müssen dann übertragen und ausgewertet werden und in geeigneter Art und Weise behandelt werden. Das betrifft insbesondere auch den Datenschutz. Es geht um Schutz vor Verfälschung oder Verlust von Daten, IT-Sicherheit im Allgemeinen, aber auch um den Schutz von Abrechnungssystemen und Bezahlvorgängen. Unsere Idee ist, solche Dienste nicht für jede Applikation komplett neu zu entwickeln, sondern eine Standard-Plattform, die sich an den Bedarf in der jeweiligen Region weitgehend anpassen lässt.

Steffen Hess: Es ist für uns eine wichtige und zentrale Aussage, dass gerade die Digitalisierung aktuelle Herausforderung lösen kann, die im ländlichen Raum vorliegen. Gerade in puncto Nahversorgung und Mobilität handelt es sich in der Regel jedoch um marktwirtschaftlich defizitäre Geschäftsmodelle, was eine Herausforderung darstellt. Um eine tragfähige Kosten-Nutzen-Kalkulation hinzubekommen, braucht es kreative Geschäftsmodelle wie beispielsweise den Tante-Emma-Dorfladen, der dann über Genossenschaftsmitglieder getragen wird. Diese Aspekte müssen von Anfang an in Projekten mitgedacht werden, anstatt beispielsweise eine exorbitante Bürgerbus-Lösung anzudenken, die digital buchbar ist, in hoher zeitlicher Taktung verkehrt und letztendlich finanziell nicht tragbar ist.

 

Unter den sozialen Aspekt fällt auch, dass Digitalisierung den Menschen mitnehmen muss und die Teilhabe aller ermöglicht. Überspitzt formuliert: Die beste digitale Lösung nutzt nichts, wenn Menschen sie nicht nutzen. Wie gelingt es – gerne auch exemplarisch anhand des Projekts „Digitale Dörfer“ – die beteiligten Akteure mitzunehmen, einzubinden und die Chancen der Digitalisierung zu ergreifen und daran zu partizipieren?

Steffen Hess: Bürgerbeteiligung stellt grundsätzlich eine Herausforderung dar. Zunächst ist es wichtig, den politischen Diskurs mit der tatsächlichen Situation vor Ort sinnvoll abzugleichen, weil der politische Diskurs häufig ein anderes Bild vermittelt als man es tatsächlich vorfindet. Um Beteiligung zu generieren, ist es ganz zentral, den konkreten Nutzen zu verdeutlichen. Wenn Sie morgen in Ort A fahren, um dort einen Workshop zum Thema „Bürgerbeteiligung zur Digitalisierung des ländlichen Raums“ durchzuführen, dann kommt niemand. Das haben wir selbst schon erlebt, dann sitzen Sie mit drei Leuten beim Beteiligungs-Workshop. Das war für uns ein Wendepunkt und die Entscheidung den ganzen Prozess in die eigene Hand zu nehmen. Wenn Sie das Thema konkretisieren z. B. als Themen die „Verbesserung der Anbindung an den ÖPNV“ oder die „Erneuerung der Dorfmitte“ anbringen, dann ist das was Konkretes, was die Leute auch betrifft und anspricht.

Sie müssen einen Kreis engagierter Personen, die intrinsisch motiviert sind, dauerhaft für das Projekt gewinnen. Zudem muss die Gruppe Engagierter repräsentativ für die Dorfgemeinschaft sein und eine gewisse Wirkung in die Dorfgemeinschaft hinein entfalten. Ebenso braucht es einen guten Beteiligungsprozess, der die Menschen auch mitentscheiden lässt und auch mit Organisationen wie Gemeinderäten gut funktioniert. Dies impliziert eine ausgewogene Balance zwischen Bereichen, in denen Bürger und Bürgerinnen mitentscheiden und wo der Gemeinderat den Rahmen steckt. Operativ kann das konkret beispielsweise bedeuten, dass der Gemeinderat entscheidet, welche zwei Projekte umgesetzt werden und Bürgerinnen und Bürger dürfen dann im Rahmen der Umsetzung mitgestalten, was vielleicht zuerst gemacht wird oder ob der Spielplatz eine Spielstraße bekommt. Unter diesen Voraussetzungen lässt sich an vielen Orten eine sehr erfolgreiche Beteiligung realisieren.

Professor Liggesmeyer: Die Ausführungen von Herrn Hess sind sehr klar. Die Grundaussage lässt sich durchaus verallgemeinern. Wenn man irgendwo aufschlägt mit der Aussage: Wir wollen hier etwas digitalisieren, dann interessiert das normalerweise niemanden. Wenn Sie hingegen hingehen und sagen: Wir wollen etwas ganz Bestimmtes für euch tun und im Zweifel passiert das mit digitalen Mitteln, dann ist das was anderes.

 

In den Medien ist die Debatte über die Digitalisierung mitunter stark negativ geprägt. Stichwort: Digitalisierung als Energiefresser, KI als Jobkiller, Hate Speech oder die GAMA-Dominanz. Welche Gegenschlagzeile oder Änderung im Mind-Set der Menschen würden Sie mit Fokus auf die Chancen der Digitalisierung dieser Haltung entgegensetzen?

Steffen Hess: Derartige Debatten sind für mich exakt die Gründe, warum man als Person den digitalen Transformationsprozess unbedingt mitgestalten sollte. Ich muss mich als Bürger, als Person in die Gestaltungsprozesse der Digitalisierung mit einer starken Stimme einbringen, durchaus auch kritisch – auch das ist legitim -, aber es muss auf einem konstruktiven Weg geschehen.

Ich muss dafür Sorge tragen, dass wenn eine KI eingesetzt wird, dass sie auch gewissen ethischen Prinzipien folgt. Mit meinen eigenen Beiträgen in Plattformen zur sozialen Interkationen auf der Dorfebene dazu beitragen, dass eben so etwas wie Hate Speech keine Chance hat. Das ist etwas, was wir in unseren digitalen Dorf-Plattformen auch ganz deutlich sehen, weil sie viel weniger anonym sind. Dass die Menschen vor Ort Tendenzen zu Hate Speech relativ schnell mit einer Gruppendynamik abfedern können, weil den Leuten im Dorf nach ein paar Posts auch bekannt ist, wer das postet und sie dann auch persönlich das Gespräch suchen. Kritik gehört sicherlich auch dazu oder mal Dampf abzulassen, aber eben auf einer konstruktiven Ebene.

Professor Liggesmeyer: Es ist keine neue Erfahrung, dass Dinge, die eine starke Veränderung herbeiführen, häufig kritisch hinterfragt werden. Das hat es in der Menschheitsgeschichte immer schon gegeben und war zu Zeiten der Industrialisierung nicht anders. Momentan steht die Digitalisierung mit ihren Auswirkungen im Fokus. Ich denke, das ist ein natürlicher Prozess, der auch durchlaufen gehört. Es ist durchaus sinnvoll, bestimmte kritische Fragen zu stellen und mit vielleicht unbequemen Antworten umgehen zu müssen. Wenn das vernünftig läuft, verbessert es im Endeffekt das System.

 

Für welche gesamtgesellschaftliche Herausforderung wünschen Sie sich ganz persönliche eine Lösung und inwiefern kann beziehungsweise ist die Digitalisierung bereits ein Teil der Lösung bei der Bewältigung dieser Herausforderung?

Professor Liggesmeyer: Als Forschungsinstitut wünschen wir uns nichts, sondern wir machen. Ganz konkret sind wir beispielsweise aktuell dabei unser Engagement in den Themenbereichen Gesundheit, Pharmazeutika, Medizin und Pflege auszubauen, weil wir an verschiedenen Stellen einen Nachholbedarf sehen. Es gibt, um das konkret zu sagen, aktuell ein Fraunhofer Projekt, an dem wir partizipieren, in dem es um die automatische Erzeugung leistungsfähiger Krebs-Therapeutika geht. Diese Therapeutika können heutzutage nur von Hand produziert werden, weil sie einen individuellen Produktionsprozess erfordern. Das macht diese Medikamente extrem teuer und sorgt dafür, dass sie nur in einer kleinen Menge verfügbar sind. Die automatisierte Erzeugung solcher Präparate lässt sich nur mit digitalen Mitteln erreichen. Man braucht einen flexiblen, digital gesteuerten autonomen Fertigungsprozess, wenn derartige Präparate auf breiter Basis genutzt werden sollen, ohne dass die Kosten im Gesundheitssystem explodieren.

Das Gleiche gilt für eine andere Facette im Gesundheitsbereich: den Pflegebereich. Die Prognosen gehen davon aus, dass wir einen sehr starken Anstieg Pflegebedürftiger haben werden, genaugenommen eine Verdreifachung bis 2050. Wir haben heute schon einen Pflegenotstand, das heißt, zu wenige Pflegende, die einer großen und steigenden Anzahl von zu pflegenden Personen gegenüberstehen. Auch da sehe ich Abhilfe nur durch technische Lösungen, weil die Anzahl der Pflegenden sich nicht beliebig steigern lässt.

Steffen Hess: Ich würde mir wünschen, dass Digitalisierung endlich beim Menschen ankommt. Dass wir in Deutschland eine Situation haben, in der wir nicht mehr darüber reden müssen, was wir vor drei oder vier Jahren hätten tun müssen, sondern dass man bei dem Thema vor die Bugwelle kommt. Wir reden immer noch über Themen wie urbane Datenplattformen in den Regionen und Städten, die natürlich eine tolle Grundlage sind, die aber eigentlich schon längst da sein sollten.

Ich wünsche mir, dass wir dieses Tempo, was wir in Pandemiezeiten aufgenommen haben, beibehalten und nicht wieder runterfahren. Doch diese Tendenz des Runterfahrens sehen wir bereits wieder. Die Befürchtung habe ich auch für den Gesundheitssektor. Wenn wir keine akute Not mehr haben, dann sind wir immer so ein bisschen träge. Wenn hingegen auf einmal Pandemien da sind oder auch äußere Ereignisse, dann geht auf einmal alles mit einer ganz anderen Geschwindigkeit. Ich würde mir einfach wünschen, dass wir die irgendwie beibehalten können.

Herzlichen Dank für das Interview.

 

Über das Projekt:

„Digitale Dörfer“ ist ein Teilprojekt des weit gefassten Forschungs- und Entwicklungsvorhabens „Smart Rural Areas“ (Intelligenter ländlicher Raum) des Fraunhofer-Instituts für Experimentelles Software Engineering IESE in Kaiserslautern. Dabei wird untersucht, wie innovative digitale Technologien dazu beitragen können, das Leben der Menschen im ländlichen Raum zu unterstützen und zu entlasten.

Mehr zum Forschungsprojekt „Digitale Dörfer“ finden Sie unter: https://www.digitale-doerfer.de/

Prof. Dr.-Ing. habil. Peter Liggesmeyer ist Leiter des Fraunhofer-Instituts für Experimentelles Software Engineering IESE in Kaiserslautern und Inhaber des Lehrstuhls für Software Engineering am Fachbereich Informatik der Technischen Universität Kaiserslautern.

Steffen Hess leitet die Hauptabteilung „Digital Innovation & Smart City“ am Fraunhofer-Institut für Experimentelles Software Engineering IESE in Kaiserslautern und verantwortete als Projektleiter das Forschungsprojekt „Digitale Dörfer“.

Interview mit Prof. Peter Liggesmeyer und Steffen Hess zum Forschungsprojekt „Digitale Dörfer“