24.11.2021

The Parliamentary View: Interview mit Tiemo Wölken

Tiemo Wölken ist Mitglied im Europäischen Parlament für die Fraktion der Progressiven Allianz der Sozialdemokraten und beschäftigt sich neben Themen wie dem DSA auch mit Nachhaltigkeitsfragen in der Netzpolitik.

Sie waren für den Initiativbericht des Rechtausschusses des EU-Parlaments zum Digital Services Act verantwortlich. Wie können illegale und Hass-Inhalte im Netz Ihrer Meinung nach am besten bekämpft werden und wo ziehen Sie rote Linien?

Zuerst möchte ich betonen, wie wichtig dieses neue Gesetz ist. Das derzeitige gesetzliche Rahmenwerk für die Regulierung von Internetplattformen ist über 20 Jahre alt. In dieser Zeit hat sich enorm viel verändert. Vor 20 Jahren war Google gerade 2 Jahre alt, Amazon ein Buchhändler und Facebook, Twitter und Instagram wurden erst viel später gegründet.

Die Reform ist also absolut überfällig. Mit dem Digital Services Act bekommen wir jetzt ein neues Grundgesetz für Digitale Dienste, dass unsere Gesetzgebung auf den Stand der Dinge bringt und wichtige gemeinsame Spielregeln festlegt, wie zum Beispiel ein EU-weites System zur Entfernung illegaler Inhalte online – das gab es bisher nur in einzelnen Mitgliedstaaten wie Deutschland mit dem NetzDG.

Das Herzstück des DSA ist ein neues Regime zur Moderation von Inhalten online, oder Neudeutsch „content moderation“. Dazu gehören sehr wichtige Instrumente wie ein Notifizierungsverfahren zum Takedown illegaler Inhalte und neue Transparenzvorschriften. Aber mir fehlen an einigen Stellen noch mehr Rechte für die Nutzer:innen. Es ist mir wichtig, dass die Entscheidungen von Plattformen immer nachvollziehbar und transparent bleiben. Auch sollte es einfach sein, Beschwerden einzureichen und sich gegen falsche Entscheidungen von Plattformen zur Entfernung von Inhalten zu wehren, gerade wenn es um sensible Themen wie die freie Meinungsäußerung und ihre Grenzen geht.

Besonders wichtig ist mir außerdem, dass wir nicht der Versuchung verfallen, möglichst viele illegale Inhalte möglichst schnell mittels automatisierter Tools und Uploadfilter zu löschen. Denn solche Tools machen leider Fehler, bei denen die freie Meinungsäußerung online zum Kollateralschaden wird. Der Einsatz von Uploadfiltern darf nicht zu Overblocking von Inhalten, also der fälschlichen Löschung legaler Inhalte führen. Ich glaube immer noch, dass automatisierte Tools wie Uploadfilter keine geeigneten Mittel sind, um illegalen Inhalten online Herr zu werden – besonders nicht dort, wo sie komplexe Inhalte mit Grundrechtsbezug berühren. Deshalb bin ich froh, dass wir in meinem Initiativbericht festschreiben konnten, dass es keine Verpflichtung zum Einsatz solcher Tools geben darf und hoffe, dass sich diese Position auch im finalen Bericht des Europäischen Parlaments zum DSA wiederfinden wird.

Welchen Stellenwert nimmt die Digitalisierung Ihrer Meinung nach bei Nachhaltigkeit und Klimaschutz ein?

Der digitale Wandel und die Klimapolitik sind die beiden Top-Prioritäten auf europäischer Ebene. In beiden Bereichen legt die Kommission ambitionierte Regulierungsvorhaben vor und stellt große Summen an Fördergeldern bereit.

Aber beide Ziele können sich auch widersprechen, z.B. wenn wir an die kurze Lebensdauer digitaler Innovationen denken. Ständig verbessert sich digitale Hardware, unsere Handys werden schneller, haben bessere Bildschirme, mehr Rechenleistung. Was für Handys gilt, gilt auch für Supercomputer, Serverinfrastruktur und Mobilfunknetzwerke, die häufig ersetzt werden müssen, um auf dem aktuellen Stand zu bleiben.

Was muss also getan werden?

Auf der Verbraucherseite müssen wir ein Recht auf Reparatur (right to repair) einführen, um die Lebensdauer von Verbrauchergeräten (z.B. Handys, Computer) zu verlängern. Produzenten sollten dazu verpflichtet werden, Ersatzteile vorzuhalten und Verbrauchern eigenständig die Reparatur zu ermöglichen.

Auf Herstellerseite müssen wir den Einsatz umwelteffizienterer Infrastruktur und Technologie fördern. Dazu gehört die Modernisierung von Kühlsystemen von Rechenzentren und die höhere Priorisierung von Energiesparsamkeit bei Verbrauchergeräten, wie z.B. durch die neuen Energieeffizienzlabels, die jetzt überall im Handel zu sehen sind.

Auf der anderen Seite kann Digitalisierung auch viel zur Erreichung unserer Klimaziele beitragen. Oft bringt fortschreitende Digitalisierung große Effizienzgewinne. Ein gutes Beispiel dafür ist Serverinfrastruktur: Früher war sie stark dezentralisiert, aber mittlerweile ermöglichen Cloud-Innovationen immer stärkere Zentralisierung in großen Rechenzentren. Das ermöglicht energieeffizienteren Betrieb der Anlagen durch bessere Kühlung und bessere Serverauslastung.

Die Klimadimension muss bei Digitalgesetzgebung immer mitgedacht werden. Das zeigt sich gut am Beispiel KI. Wir diskutieren gerade mit dem AI Act eine neue Verordnung, die Hochrisikoanwendungen regulieren soll. Dabei sollten wir darauf achten, dass Klimaziele in der Klassifizierung von KI-Anwendungen eine Rolle spielen und dass auch Daten über Energieverbrauch durch diese Anwendungen gesammelt werden. KI kann durch Prozessoptimierung in vielen Bereichen große Effizienzgewinne bringen, wie zum Beispiel in der Logistikbranche sowie im Smart Home oder in der Smart City. Gleichzeitig werden KI-Algorithmen aber auch unter sehr großem Rechenleistungsaufwand trainiert und betrieben – hier muss gut abgewogen werden.

In Bezug auf die Klimawirkung gilt also: Digitalisierung und KI sind nicht per se gut oder schlecht, es kommt auf die Sinnhaftigkeit der Anwendung an. Innovation ist kein Selbstzweck. Neue Anwendungen müssen darauf hin überprüft werden: Bringen sie tatsächlich Effizienzgewinne? Wie hoch ist der Material- und Energieaufwand für die Anwendungen selbst? Wie transparent sind sie für Verbraucher:innen?

Ich bin überzeugt: Vorteile von Digitalisierung auch für den Kampf gegen Klimawandel überwiegen, aber digitale Technologie muss dafür richtig genutzt werden.

Wie bewerten Sie in diesem Kontext das „Fit for 55“-Paket und wo muss ggf. nachgesteuert werden?

Konkret ist hier vor allem der Vorschlag zur Energieeffizienz von Rechenzentren zu nennen:

Dieser findet sich im Vorschlag zur Energieeffizienz-Richtlinie: Die Kommission geht von vier Dimensionen der Nachhaltigkeit aus, die zu verbessern sind: Effizienz der Energienutzung; Anteil erneuerbarer Energien; Nutzung der Abwärme; Nutzung von Frischwasser. Der Energieverbrauch und auch Wasserverbrauch der größten Zentren soll ab 2024 von den Mitgliedstaaten verpflichtend überwacht werden. Darauf aufbauend will die Kommission für Rechenzentren ein Nachhaltigkeitssiegel erarbeiten, setzt aber zunächst auf weiche Regeln und Freiwilligkeit.

Bei Regeln zur freiwilligen Standardisierung hat sich in der Vergangenheit oft gezeigt, dass dies nur ein Vorschritt für kommende gesetzliche Regelungen war. Angesichts der Dringlichkeit des Klimaproblems sollten hier auch auf Unternehmensseite von Beginn an verpflichtende Standards und Zertifizierung vorgegeben werden.

Wir benötigen allgemein mehr verpflichtende Vorgaben für die EU-Mitgliedstaaten, die weitere Instrumente in der Hand halten, um klimaneutral zu werden. Wir brauchen unter anderem den verbindlichen und schnellen europaweiten Ausbau der Lade-Infrastruktur und national verbindliche Ziele für den Ausbau von erneuerbaren Energien, die von der Kommission leider nur für EU-weite Erreichung angedacht sind.

Generell brauchen wir effektive Verpflichtungen, die in erster Linie bei den Produzentinnen und Unternehmen ansetzen, nicht bei den Verbraucherinnen, denn nur so können wir Märkte gestalten.

 

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